In Sachen Wetterfühligkeit

“Das war’s dann wohl mit dem Sommer”, sage ich zu mir selbst und rühre einen weiteren Löffel Honig in den Hagebuttentee. Im Hintergrund singt Nat King Cole eine sanftmütige Melancholie in meine Wohnung, während im Bad leise plätschernd das Badewasser einläuft – der perfekte Soundtrack für diesen nass-grauen Tag.
Ja, es wird Herbst in Berlin.
Eine Zeit der Ruhe und Behaglichkeit – das peitschende, unermüdliche Wummern des Großstadtsommers weicht dem seicht-rhythmischen Prasseln des Regens an den Fensterscheiben. Ja, jetzt wird’s gemütlich!
Mit diesen Gedanken lasse ich mich zurück auf das Bärenfell am Kaminfeuer sinken, stricke ein weiteres Paar Socken und…ach scheiße, der Tee ist alle!
Naja, dann muß man eben nochmal kurz runter – alles halb so wild. Schnell raus aus der gammeligen Jogginghose und rein in die Jeans. Festes Schuhwerk, Pulli, Strickjacke, gefütterte Winterjacke – nach ca. 67 Minuten ist man dann endlich fertig wetterfest angekleidet und verlässt das Haus.
Und dann muß man U-Bahn fahren.
Klingt für den unbedarften Leser bestimmt erstmal nicht weiter schlimm – sorgt aber sicherlich bei 98% der auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesenen Berliner Berufstätigen für ein kurzes, aber heftiges Verkrampfen der Eingeweide. Denn egal ob Bus, U- oder S-Bahn: der öffentliche Personennahverkehr ist während dieser Zeit alles andere als ein Vergnügen.
Und dann kommt sie, die Bahn. Selbstverständlich mit Verspätung. Das erklärt auch die enorme Menschenmasse, die man bereits beim Einfahren des Zuges in den Bahnhof schemenhaft hinter den beschlagenen Fensterscheiben erkennen kann. Dicht an dicht gedrängt mit sorgenfaltigen Gesichtern stehen die Fahrgäste in den Gängen und schnappen amphibienartig nach Luft, als sich die Türen öffnen, und man selbst denkt beim Einsteigen: ‘Wie albern!’ – aber spätestens nachdem sich die Türen wieder hinter einem geschlossen haben, wird man innerhalb von Sekunden eines Besseren belehrt.
Denn dann steht man selber da: auf unweigerlicher Tuchfühlung mit dem mundfäuligen Nachbarn mit den fettigen Haaren, ohne jedwede Möglichkeit, dem unangenehmen Schubbern seiner regennasser Kleidung ausweichen zu können – geschweige denn seinem Atem.
Der arme Nat King Cole weicht dem schmerzhaft-schrillen Sopran berucksackter Teenager, die sich in der Lautstärke eines startenden Düsenjets hysterisch geifernd gegenseitig ihre Handyvideos vorspielen.
Scheinbar endlos schleichen so die Minuten dahin – und mitsamt der Panik, möglicherweise in einer Zeitschlaufe gefangen zu sein sammelt sich unter den tausenden Lagen atmungsinaktiver Winterkleidung das Wasser im unteren Rücken.
Das ist der Zeitpunkt, an dem ich beschließe, bei der nächsten Haltestelle auszusteigen.
Cholerisch schreiend stürze ich panisch aus der Fahrgastzelle, reiße mir die Klamotten vom Leib und schnappe amphibienartig nach Luft. “Scheiß auf den Tee!” sage ich mir und erschlage wortlos den nächsten Passanten, der mir beinahe mit seinem verkackten Regenschirm das Augenlicht nahm.
Harte Umstände erfordern eben manchmal harte Maßnahmen.
Unter diesem Aspekt unternehme ich einen Abstecher zum nächstbesten Späti, kaufe dort statt des weibischen Aufgussgetränks wahllos mehrere Flaschen harten Alkohols und gehe zurück in meine Wohnung, in der ich bereits von einer saftigen Winterdepression erwartet werde.
Naja, immerhin besser als so ganz alleine.

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