Freunde – es ist soweit: wir werden angegriffen!
Was wir seit Wochen befürchten, ist nun eingetroffen; was wir vor Monaten noch verlachten, ist nun wahr geworden. Nun steht sie vor den Toren Berlins und lacht über uns, die rot-weiße Armee der instruierten Glückseligkeit. Mit steifgefrorenem Lächeln und den Besatzerhymnen auf den Lippen stürmt sie unsere kleine friedvolle Gemeinde und stört unseren Winterschlaf. Und wieder einmal sind wir verloren – wieder einmal ist sie da: die Weihnachtszeit.
Ich habe es gerade noch so geschafft, ihrem liebreizenden Würgegriff zu entgehen und bin glücklicherweise noch in der Lage, meinen folgsamen Lesern diese möglicherweise lebensrettende Warnung über’s Internet zukommen zu lassen. Noch eben lief ich nämlich nichtsahnend und wohlig eingehüllt in herbstliche Großstadtmonotonie über den Alex, als ich plötzlich diesen Geruch wahrnahm: diesen Geruch von Zimt und Lebkuchengewürz, Bratwurst und Glühwein, von Zuckerwatte und Kinderkotze – kurz: der Geruch des Grauens lag in der Luft! Eiskalte Panik erfüllte mich und ich rannte, was das Zeug hielt. Wasserfolter mit Eierlikör, eingemauert mit Dominosteinen und dazu wohlmöglich noch wochenlange Torturen mit “Last Christmas” oder Mariah Careys neuem Weihnachtsalbum in der Endlosschleife - nicht auszudenken, was geschehen wäre, wenn sie mich jetzt schon gekriegt hätten!
Denn das Schlimmste am Weihnachtsfest ist, daß man ihm einfach nicht entkommen kann. Egal wohin man geht, egal wohin man sieht, irgendwann kriegt es uns alle – dabei ist es noch über einen Monat hin bis zum festlichen D-Day. Doch die richtigen Knöpfchen sind vorsichtshalber schon ein Vierteljahr vorher gedrückt und schon jetzt laufen die kauffreudigen Konsumenten Amok. “Kling, Kasse, klingelingeling.”
Jetzt höre ich natürlich wieder die Unkenrufe: “Och der von Keil, was der nur wieder hat…Weihnachten ist doch die schönste Zeit des Jahres, die kann doch gar nicht lang genug sein!” Tja, dieser These würde ich mich ironischerweise auch noch nicht mal entgegenstellen – allerdings ist mir bei weitem ‘n Beutel Zucker zuviel in diesem Kuchen! Das ist etwa so, als würde man sich bei Dunkin’ Donuts ein Maximenü ordern, um dann nach dem zweiten Boston Creme festzustellen, daß man möglicherweise einen hypoglykämischen Schock erleiden wird.
Seien Sie doch mal ehrlich – fühlen Sie sich nicht verarscht von all den falschen Heilsprophezeihungen der Werbeindustrie? Fühlen Sie sich nicht verraten, wenn Sie im unmenschlichen Gedränge eines Weihnachtsmarktes stehen, auf dem einen Ohr ‘nen Tinitus, auf dem anderem “Leise rieselt der Schnee” – doch alles, was rieselt, ist kalter Regen und die letzte halbverdaute Mahlzeit aus dem Gesicht einer betrunkenen Minderjährigen neben dem Breakdancer? Fühlen Sie sich nicht irgendwie belogen, wenn Sie in Werbespots fröhlichen jungen Menschen in bunten Skianzügen bei der Schneeballschlacht zusehen müssen? Sollen die das doch mal versuchen, hier in Berlin im Januar, und sich dann schön die halbgefrorene Hundescheiße an die Köppe werfen! Das wäre in etwa dasselbe, als würde Ihnen Ihr Partner während des Geschlechtsaktes ein Bild von beispielsweise George Clooney vor’s Gesicht halten und sagen: “Schau mal, so könnte es sein – isses aber nich!”
Da ist die Realität doch völlig verzerrt, das ist doch Vorspiegelung falscher Tatsachen!
Und überhaupt – “Stille Nacht, heilige Nacht”: ich persönlich kenne keine einzige Familie, bei denen der Heilige Abend nicht in mindestens einer mittelschweren Katastrophe endet: sei es, daß die überstresste Mutti aus Versehen ranzige Mayonnaise in den Kartoffelsalat gerührt hat, die kleine Schwester die falsche Baby Born bekommt oder der Weihnachtsbaum (der übrigens 30€ teurer war als noch letztes Jahr) schon ganz braun ist und Vati die Hälfte der Nadeln in den Veloursteppich tritt.
Die Zeit der Ruhe und Besinnlichkeit – von wegen!
Für mich wird der einzige Moment der Stille wie immer der sein, in dem ich im fahlen Licht des zweiten Weihnachtstages vom Balkon auf die halbverwaiste Geister-Großstadt hinabblickte und die Welt tatsächlich für einen Augenblick still steht, weil alle Erstsemester-Lenas/-Lisas/-Lauras zu Mami und Papi nach Westdeutschland gefahren sind über die Feiertage. Und während die BSR-Kehrmaschinen mit sanftem Brummen die halbgefrorenen Hundehäufchen in die Kanalisation kehrt, esse ich den Rest meiner Stopfleber-Zimt-Schokolade auf und freue mich, daß der ganze Mist endlich vorbei ist – wenigstens bis nächstes Jahr.
Frohlocket, verdammt nochmal!
Illustration by Tim Brackmann
Freunde – es ist soweit: wir werden angegriffen!
Was wir seit Wochen befürchten, ist nun eingetroffen; was wir vor Monaten noch verlachten, ist nun wahr geworden. Nun steht sie vor den Toren Berlins und lacht über uns, die rot-weiße Armee der instruierten Glückseligkeit. Mit steifgefrorenem Lächeln und den Besatzerhymnen auf den Lippen stürmt sie unsere kleine friedvolle Gemeinde und stört unseren Winterschlaf. Und wieder einmal sind wir verloren – wieder einmal ist sie da: die Weihnachtszeit.
Ich habe es gerade noch so geschafft, ihrem liebreizenden Würgegriff zu entgehen und bin glücklicherweise noch in der Lage, meinen folgsamen Lesern diese möglicherweise lebensrettende Warnung über’s Internet zukommen zu lassen. Noch eben lief ich nämlich nichtsahnend und wohlig eingehüllt in herbstliche Großstadtmonotonie über den Alex, als ich plötzlich diesen Geruch wahrnahm: diesen Geruch von Zimt und Lebkuchengewürz, Bratwurst und Glühwein, von Zuckerwatte und Kinderkotze – kurz: der Geruch des Grauens lag in der Luft! Eiskalte Panik erfüllte mich und ich rannte, was das Zeug hielt. Wasserfolter mit Eierlikör, eingemauert mit Dominosteinen und dazu wohlmöglich noch wochenlange Torturen mit “Last Christmas” oder Mariah Careys neuem Weihnachtsalbum in der Endlosschleife - nicht auszudenken, was geschehen wäre, wenn sie mich jetzt schon gekriegt hätten!
Denn das Schlimmste am Weihnachtsfest ist, daß man ihm einfach nicht entkommen kann. Egal wohin man geht, egal wohin man sieht, irgendwann kriegt es uns alle – dabei ist es noch über einen Monat hin bis zum festlichen D-Day. Doch die richtigen Knöpfchen sind vorsichtshalber schon ein Vierteljahr vorher gedrückt und schon jetzt laufen die kauffreudigen Konsumenten Amok. “Kling, Kasse, klingelingeling.”
Jetzt höre ich natürlich wieder die Unkenrufe: “Och der von Keil, was der nur wieder hat…Weihnachten ist doch die schönste Zeit des Jahres, die kann doch gar nicht lang genug sein!” Tja, dieser These würde ich mich ironischerweise auch noch nicht mal entgegenstellen – allerdings ist mir bei weitem ‘n Beutel Zucker zuviel in diesem Kuchen! Das ist etwa so, als würde man sich bei Dunkin’ Donuts ein Maximenü ordern, um dann nach dem zweiten Boston Creme festzustellen, daß man möglicherweise einen hypoglykämischen Schock erleiden wird.
Seien Sie doch mal ehrlich – fühlen Sie sich nicht verarscht von all den falschen Heilsprophezeihungen der Werbeindustrie? Fühlen Sie sich nicht verraten, wenn Sie im unmenschlichen Gedränge eines Weihnachtsmarktes stehen, auf dem einen Ohr ‘nen Tinitus, auf dem anderem “Leise rieselt der Schnee” – doch alles, was rieselt, ist kalter Regen und die letzte halbverdaute Mahlzeit aus dem Gesicht einer betrunkenen Minderjährigen neben dem Breakdancer? Fühlen Sie sich nicht irgendwie belogen, wenn Sie in Werbespots fröhlichen jungen Menschen in bunten Skianzügen bei der Schneeballschlacht zusehen müssen? Sollen die das doch mal versuchen, hier in Berlin im Januar, und sich dann schön die halbgefrorene Hundescheiße an die Köppe werfen! Das wäre in etwa dasselbe, als würde Ihnen Ihr Partner während des Geschlechtsaktes ein Bild von beispielsweise George Clooney vor’s Gesicht halten und sagen: “Schau mal, so könnte es sein – isses aber nich!”
Da ist die Realität doch völlig verzerrt, das ist doch Vorspiegelung falscher Tatsachen!
Und überhaupt – “Stille Nacht, heilige Nacht”: ich persönlich kenne keine einzige Familie, bei denen der Heilige Abend nicht in mindestens einer mittelschweren Katastrophe endet: sei es, daß die überstresste Mutti aus Versehen ranzige Mayonnaise in den Kartoffelsalat gerührt hat, die kleine Schwester die falsche Baby Born bekommt oder der Weihnachtsbaum (der übrigens 30€ teurer war als noch letztes Jahr) schon ganz braun ist und Vati die Hälfte der Nadeln in den Veloursteppich tritt.
Die Zeit der Ruhe und Besinnlichkeit – von wegen!
Für mich wird der einzige Moment der Stille wie immer der sein, in dem ich im fahlen Licht des zweiten Weihnachtstages vom Balkon auf die halbverwaiste Geister-Großstadt hinabblickte und die Welt tatsächlich für einen Augenblick still steht, weil alle Erstsemester-Lenas/-Lisas/-Lauras zu Mami und Papi nach Westdeutschland gefahren sind über die Feiertage. Und während die BSR-Kehrmaschinen mit sanftem Brummen die halbgefrorenen Hundehäufchen in die Kanalisation kehrt, esse ich den Rest meiner Stopfleber-Zimt-Schokolade auf und freue mich, daß der ganze Mist endlich vorbei ist – wenigstens bis nächstes Jahr.
Text Herr von Keil
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