We could be heroes…

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Illustration by Tim Brackmann

Es gibt Momente, in denen erklärt sich das Gefüge unserer Welt wie von selbst, innerhalb eines Sekundenbruchteils.
Solche Moment sind sehr sehr selten, aber einen jener raren Augenblicke habe ich gerade vorhin abpassen können – und zwar an keinem weniger glamourösen Ort als der DVD-Abteilung von Saturn. Normalerweise bin ich ja gerade in öffentlichen Verkehrsmitteln und urbanen Ballungszentren mit Hilfe extraschalldichter Kopfhörer akustisch besonders sorgfältig abgeschirmt von der Zivilisation, aber just als sich die berüchtigten paar Sekunden Stille zwischen zwei Liedtiteln auf meinem Mp3-Player mit dem Klangteppich der Realität vermischt, werde ich ungewollt Zeuge eines Gespräches :
“Ey komm bitte, ich geb’s dir auch zurück!” wimmert eine tränenerstickte Stimme neben mir.
Sie stammt von einem Kind, kaum älter als 12, aber auf unangemessene Weise aufgedonnert wie eine 20jährige.
“Nei-en!” entgegnet ihr eine Frau, offenbar die Mutti, die sich in ihrem orangefarbenen Anorak schon zum Gehen gewandt hat.
“Aber die kostet doch nur 12 Euro!” Unter Tränen zerläuft die sorgfältig aufgetragene Erwachsenenmaskerade und mit zitternden Kinderfingern zeigt das Mädchen auf einen Stapel DVDs: ‘Hannah Montana – die ganze Wahrheit’. Auf dem Cover ist eine adoleszente junge Frau im knappen Top abgebildet, aufgesetzt grinsend, den blondgefärbten Kopf keck zur Seite geneigt – kurzum: ein bonbonfarbener Antichrist.
Ich erschaudere und kämpfe kurz mit dem Drang, mich übergeben zu müssen – aber je genauer ich darüber nachdenke, desto weniger muss ich mich darüber wundern: wie sollten sie denn sonst aussehen, die Helden der Kinder von heute, in einer Zeit des kulturellen Stillstands?
Es ist eben in diesen Tagen, so scheint es mir, überwiegend die Verpackung, an der sich der moderne Verbraucher orientiert: was drinnen ist, ist in erster Linie egal – Hauptsache, es füllt den Einkaufswagen und die Schachtel ist schön bunt.
Ich nenne es mal das “Mon-Chèrie-Prinzip”: würde die aufreizende Claudia Bertani nicht höchstpersönlich die Piemontkirschen von den Bäumen holen und im tiefgeschnittenen roten Abendkleid eigenhändig zu Kirschlikör keltern – wer würde diesen ekelhaften Mist denn dann überhaupt noch kaufen? Wer würde allen Ernstes mehr als drei Euro für eine Schachtel muffiger Pralinen ausgeben, wenn diese noch nicht mal einen glamourösen Fernsehspot vorweisen können? Nein, sowas wollen wir nicht. Adel verpflichtet eben. Und ich sage es Ihnen: würden Sarah Connor oder Heidi Klum für Neopolitaner-Waffeln werben – die wären ruckzuck wieder en vogue, und das obwohl die eigentlich kein Mensch auf dieser ganzen weiten Welt gerne isst!
Man muss sich seine Konsumenten eben nur erziehen: wenn sie die ganze Zeit nix anderes als Haferbrei vorgesetzt kriegen, werden sie irgendwann auch nix anderes als Haferbrei mehr essen wollen – ganz einfach, weil sie nichts anderes kennen.
Mit einer cleveren Mischung aus Ignoranz, anspruchsfreier Geschmacksresistenz und ausgefeiltem Marketing macht man eben heute die schnelle Mark. Und genauso funktioniert es mittlerweile auch in der Unterhaltungsindustrie. Wie sonst könnte man den Erfolg jener zeitgenössischen “Künstler” erklären, deren ‘ach-so-extravagantes, nie-da-gewesenes’ Auftreten ihre unterdurchschnittliche musikalische Beliebigkeit überdeckt? Das kann ja nur bei einem Publikum funktionieren, das noch nie etwas von Grace Jones gehört hat oder Bowie für ein Waschmittel hält.
Verstehen Sie mich nicht falsch – ich freue mich immer, wenn ich aktuelle Musik entdecke, die mir gefällt! Doch aus diesem scheinbar uferlosen Meer aus gefälliger Rentabilität und seelenlos-dröger Langeweile etwas Tolles, Überraschendes zu fischen ist in etwa so mühsam wie Perlentauchen in der Kläranlage.
Oder liegt es vielleicht nur an mir?
Ist das vielleicht der berühmt-berüchtigte Generationskonflikt?
Werde ich jetzt vielleicht doch wie meine Eltern, die sich damals auch immer so tierisch aufgeregt haben, wenn ich schon wieder die nigelnagelneuen Levis zerschnitten hatte?
Werde ich einfach alt?? Alt und verbittert, obwohl ich doch – - -
Gott sei Dank setzt in diesem Moment wieder die Musik auf meinen Kopfhörern ein und ich ziehe mich zurück in die wohlige Isolation meines kleinen Paralleluniversums. Meine eigene kleine Welt, in der einfach noch alles in Ordnung ist – in der Joghurt noch so wertvoll ist wie ein kleines Steak, in der Mickey Mouse noch zweidimensional und handgezeichnet ist und in der man sich noch mit Bibi Blocksberg um 3 vor der Eisdiele trifft. Zumindest hier herrschen meine Helden noch! Und während Lady Gaga in meinem Kopf von Freddie Mercury und Annie Lennox in ihre Einzelteile zerlegt wird, fliege ich auf dem Glücksdrachen Fuchur aus dem Geschäft und komme nie nie nie wieder zurück.
Hoffentlich halten die Batterien noch eine Weile…

Text Herr von Keil

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Ein Kommentar

  1. Jörg
    Erstellt am 28. November 2010 um 16:26 | Permanent-Link

    Ich mag Neapolitaner Waffeln. Aber sonst kann ich deine Gedanken absolut nachvollziehen.

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