Is this the real life? Is this just fantasy?

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Es war ein trist-grauer Spätnovembervormittag und ich stand auf dem Schulhof und weinte. Nicht etwa, weil ich meine Hausaufgaben vergessen hatte oder mir die fünfzig Pfennig für’s Mohrenkopfbrötchen wieder mal in den Gully gefallen sind, nein – ich weinte, weil mein großes Idol nicht mehr war. Einfach fort, unwiederbringlich weg.
Es war der erste Tag in meinem jungen Leben, am dem ich mit aller Wucht mit der Endgültigkeit konfrontiert wurde. Es war der Morgen des 25.11.1991 und am Abend zuvor starb Freddie Mercury.
Wie konnte das sein? Wie konnte der Mann, der mir trotz meiner damals praktisch kaum vorhandenen Englischkenntnisse tagtäglich soviel Kraft, Mut und Farbe ins Leben singt, einfach so sterben??
“Der war schwul und hatte AIDS!” keiften die besonders garstigen Klassenkameraden und sprangen lachend um mich herum wie eine Horde Rumpelstilzchen ums Lagerfeuer. Selbst die Kinder, die sonst üblicherweise als Zielscheibe des willkürlichen Pausenhofspottes dienten, hatten sich in den hässlichen Reigen eingereiht. In diesem Moment wurde mir erstmalig ganz deutlich bewusst, dass Kinder nicht nur gemein, sondern auch unbeschreiblich doof sein können. Tränenüberströmt floh ich in die brennnesselüberwucherte Einsamkeit hinter der hässlichen Turnhalle, zog meinen Walkman auf und war endlich allein mit mir, mit meiner Trauer – und mit Queen auf den Ohren.
Schon damals war mir klar, dass dies zweifelsohne einer jener Augenblicke sein wird, an die man sich sein ganzes Leben lang erinnert. Und so saß ich da im Dornengestrüpp, den lustlosen Sprühregen eines durchschnittsdeutschen Spätherbsttages auf dem Gesicht, und versuchte die Ereignisse dieser letzten Stunden irgendwie zu begreifen: wie ich morgens zum Frühstück in die Küche kam und von meinen Eltern statt des üblichen “Guten Morgen” einem beinahe beiläufigen “Freddie ist tot” begrüßt wurde. Wie ich versucht habe, mir nichts anmerken zu lassen. Wie ich auf mein Zimmer schlich und heulte wie ein Schlosshund um einen Mann, den ich doch eigentlich gar nicht kannte. Und dann natürlich die Kinder -  diese dummen, dummen, ignoranten, kleinen Wichte! Selbst heute, 20 Jahre später, kommen mir immer noch die Tränen, wenn ich an die Intensität dieses Tages zurückdenke. Die Musik von Queen wurde zum unteilbaren Soundtrack meines Lebens. Und mit dem Tod von Freddie Mercury entstand das große Trauma meiner Kindheit.
Doch was ist schon eine Kindheit ohne das ein oder andere traumatisierende Erlebnis? – Sei es nun das Verlieren eines Elternteils im Kaufhaus, der tollwütige Wadenbeißer der Nachbarn oder der große Bruder, der einen mit sechs Jahren dazu nötigt, sich Stephen Kings “Es” anzusehen (an dieser Stelle ein aufrichtiges Tut-mir-leid an meinen kleinen Bruder – ich hatte ja keine Ahnung, was ich dir damit angetan habe…). Es sind die vermeintlichen Kleinigkeiten, all die fiesen kleinen Zwischenfälle in der Kindheit, die uns später in manchen Situationen Dinge tun lassen, die andere nur schwer verstehen können. So schreit die seltsame Ruth aus dem zweiten Stock eben nicht aus schierer Ignoranz das ganze Haus zusammen, wenn sie nachts um halb zwei in ihrer Dusche eine fette Kellerspinne entdeckt – sie kann einfach nicht anders. Sie wird schon ihre Gründe haben. Und auch der sonst so umgängliche Thorsten würgt nicht aus purer Gehässigkeit das halbe Menü wieder hoch, wenn man ihm mitteilt, dass in der Soße Kokosmilch verarbeitet wurde. Wir kennen seine Beweggründe nicht, aber offenbar hat er welche. Er kann einfach nicht anders.
Und seien wir doch mal ehrlich: eigentlich fühlen wir uns doch schon ganz schön toll mit all unseren Macken und Eigenarten, oder? Narben sind ja schließlich sexy. Und nur wer Narben hat, hat auch Geschichten zu erzählen – auch wenn sie vermutlich keiner hören will. Aber Sie sehen – ich zumindest mache es trotzdem! Eben weil ich nicht anders kann. Und wäre das Trauma meiner Kindheit ein anderes gewesen, als das eingangs erwähnte, hätte ich mich infolgedessen wahrscheinlich niemals der Schöngeistigkeit verschrieben und würde stattdessen Panzer fahren in Afghanistan oder Paletten abräumen bei Schlecker.
So müssen solch tief einschneidende Ereignisse nicht immer zwangsläufig in lebenslangen Schmerz und Psychosen münden – es ist eben immer die Frage, wie man mit seiner hart erkämpften Weisheit umgeht und was man bestenfalls daraus macht: es soll ja Leute geben, die fallen mit sechs Jahren von der Leiter, schreiben später ein Buch drüber und sind Millionäre! Denken Sie mal darüber nach! Welcher tiefere Sinn aber nun dahinter steht, wenn man sich beispielsweise sein Leben lang vor Clowns fürchtet, weiß ich jetzt allerdings auch nicht. In Fällen wie diesen war das Schicksal wohl einfach mal Arschloch.
In meinem Fall sind speckige Turnhallen und feiste Kindergesichter mittlerweile überwunden – doch die Liebe zu meiner Lieblingsband ist geblieben. Unfreiwilliger Kontakt zu doofen Menschen allerdings leider auch. Wie glücklich kann ich mich dann also schätzen, in solchen Momenten einfach wieder zu den Kopfhörern greifen zu können, um gemeinsam mit Freddie zu einer kleinen mentalen Rundreise außerhalb der Realität abzuheben. Eine Clownphobie wäre da mit Sicherheit wesentlich unangenehmer. Und so walze ich Jahr für Jahr mit dem “Millionaire Waltz” durch den Frühling, schwitze in der Sommersonne zu “Seaside Rendezvous” und begrüße mit “A Winter’s Tale” die ersten zarten Schneeflocken – ein schöneres Kindheitstrauma kann ich mir beileibe nicht vorstellen!
Danke, Freddie. ♥

“Fairy tales of yesterday will grow but never die.” (Queen, “The Show Must Go On”, 1991)

Text: Herr von Keil

Illustration: Tim Brackmann

 

 

 

 

 

 

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