Hat’s geschmeckt?

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Ich hasse Essen gehen.
Immer schon. Bereits als Kind war es mir ein Gräuel sondergleichen – und je detaillierter ich mir die sonntäglichen Familienausflüge ins örtliche italienische Restaurant ins Gedächtnis rufe, desto weniger muss ich mich eigentlich darüber wundern. Denn damals galt Essen gehen bei weitem nicht als Event, wie man es heute vielerorts kennt: mit exklusiven Speisekarten, kulinarischen Außergewöhnlichkeiten und akrobatischen Showköchen – im Gegenteil. Man ging Essen, weil man keinen Bock hatte, zuhause die neue Einbauküche schmutzig zu machen. Das klingt ernüchternd – aber das war es auch. Und in einem Heimatort wie dem Meinen mitten im westdeutschen Niemandsland sowieso.
Es ist ja weitläufig bekannt, dass jede Pizzeria in Orten mit weniger als 10.000 Einwohnern den Vornamen des Besitzers im Namen tragen muss: Da Angelo, Da Luigi, Da Domenico… Warum das so ist, kann ich Ihnen auch nicht sagen – es muss sich hierbei um eine alte italienische Tradition handeln. Das erklärt auch, warum jede zweite Eisdiele “Venezia” heißt…aber holen wir mal nicht allzu weit aus.
Jedenfalls hieß unsere Pizzeria “Da Mimo” und lag auf ungefähr 5 Quadratmetern direkt über der hiesigen Buchhandlung Lauer.
Und obwohl das Lokal auf zweiter Etage lag, war es “bei Mimo” dunkler als in einem Kartoffelkeller: schwere braune Stoffvorhänge vor den viel zu kleinen Fenstern gaben dem Tageslicht keine großen Chancen und auch das schummerige Licht der eingestaubten Korblampen über den Tischen konnte der Finsternis nichts entgegensetzen. Die Wände ringsherum waren mit Holz verkleidet und vermittelten anstelle von südlicher Lebensfreude eher das Flair der gemischten Sauna des Gütersloher Hallenbads. Und eigentlich lag man mit Sauna gar nicht so verkehrt – denn kaum hatte man sich durch den abgegrabbelten braunen Frischluftschutzvorhang an der Eingangstür gekämpft, überraschte einen neben der plötzlichen Dunkelheit auch noch ein totaler Klimawandel. Bei Mimo standen nämlich immer sämtliche Heizungen konsequent auf 5, im Sommer wie im Winter – vermutlich um eine besonders mediterrane Atmosphäre zu erzeugen. Und wer da seine Badekleidung vergessen hatte, der hatte das Nachsehen.
Das alles klingt nicht sonderlich einladend für ein Restaurant, werden Sie denken – und das war es auch nicht. Aber trotzdem war es, schon damals zu meiner großen Verwunderung, immer voll in Mimos Pizzeria: am Wochenende drängte sich teilweise die halbe Einwohnerschaft in den klitzekleinen stickigen Raum, und der hatte gerade zur Mittagszeit den etwaigen Entspannungsgrad eines S-Bahn-Wagons der Linie 75 zur Rush Hour. Warum tun sich Menschen sowas freiwillig an? Wie schön könnte man jetzt einfach zu Hause im Micky-Maus-Jogginganzug auf der Couch lümmeln, sich den “Sonntags Nachtisch” mit Hansi Fischer im ZDF ansehen und dazu einfach ein Nutellabrot essen! Aber was half es schon – die Eltern hatten einem die Entscheidung ja bereits abgenommen und noch bevor man sich darüber beschweren konnte, stand schon die sehr laute, sehr gut gelaunte Bedienung vor einem und nahm die Bestellung auf.
“Eine Cola bitte.”
Ja, zur Feier des Tages durfte ich sogar eine Cola trinken. Zuhause gab es nie Cola zum Essen, außer vielleicht an Kindergeburtstagen oder wenn man mal Bauchweh hatte. Diese unausgesprochene Regelung bestand dabei tatsächlich weniger aus dem Grund, als dass meine Eltern es nicht wollten, sondern weil ich dieses klebrige süße Zeug einfach nicht mochte. Aber heute, beim Essen gehen – zur Feier des Tages – da darf’s auch mal eine Cola sein! Man gönnt sich ja sonst nichts.
Dieses Credo nahmen sich meine Eltern sowie alle anderen im Raum anwesenden Erwachsenen ebenfalls sehr zu Herzen bzw. zur Lunge und steckten sich eine Zigarette nach der anderen an. Ja, das war damals tatsächlich noch möglich! In den 80ern gehörte es zum guten Ton, nicht nur nach, sondern auch vor und am besten auch während der Mahlzeit zu rauchen. Wenn man Glück hatte, bekam man von einem der Erwachsenen fünf Mark in die Hand gedrückt mit der Bitte, ihnen doch am Automaten vorne am Eingang eine Schachtel Zigaretten zu ziehen – vorzugsweise natürlich Marlboro oder Peter Stuyvesant. Warum es gerade die Marken mit den langweiligsten Verpackungen sein sollten, habe ich damals natürlich nicht verstanden und versuchte meine Mutter stets davon zu überzeugen, doch mal Rothhändle oder Ernte 23 auszuprobieren – schließlich hatten die die schöneren Verpackungen. Die Antwort darauf war allerdings stets kurz und indiskutabel: “Weil die scheiße schmecken.” Gut. Muss wohl so sein. Der geschmackliche Facettenreichtum des Rauchens war eine Welt, die sich mir damals nicht erschließen sollte; ein Mysterium, das ich nicht verstand. Ebenso wenig wie die Vorliebe für’s Essen gehen.
Und während Mama sich eine weitere Peter Stuyvesant ansteckte und dem kleinen überheizten Raum noch mehr unverbrauchten Sauerstoff nahm, schmolz mit dem einzelnen, verlorenen Eiswürfel in meiner lauwarmen Cola auch langsam aber stetig die Geduld. Ein endloses, sinnlos verbrachtes Warten – ohne, dass man auch nur irgendetwas dagegen tun könnte. Rauchen darf man ja schließlich noch nicht. Es liegen noch nicht mal genug Bierdeckel auf dem Tisch, mit denen man ein Kartenhaus bauen könnte. Mensch – warum ist man nicht einfach 2-3 Jahre jünger, dann könnte man wenigstens ein bisschen auf dem Boden rumrollen wie die nervigen Kleinkinder am Nachbartisch. Aber sowas macht man ja im fortgeschrittenen Grundschulalter nicht mehr. Stattdessen sitzt man da, starrt apathisch auf das amateurhafte Wandgemälde einer toskanischen Olivenplantage und hofft, dass sich vielleicht doch noch ein Quentchen des vielzitierten italienischen Dolce Vita-Gefühls einstellt. Tut es aber nicht. Es bleibt eben doch nur eine düstere Dorfpizzeria über der Buchhandlung Lauer, mit holzvertäfelten Wänden und eingestaubten Korblampen.
Aber dann, irgendwann… – just als Gianna Nannini zu “Bello e impossibile” ansetzt und die Sauerstoffarmut einem erneut den Angstschweiß in die untere Rückenpartie treibt – kommt endlich das Essen. Meistens isst man Pizza Salami oder Spaghetti Bolognese – eben das, was man auch von Zuhause her kennt. Diese Tatsache lässt die Unsinnigkeit des Auswärts-Essens natürlich noch deutlicher werden, aber das ist in diesem Moment vollkommen Wurst: Hauptsache man hat endlich etwas zu tun!
Diese Euphorie ist allerdings nur von kurzer Dauer, denn jeder weiß: wer den Berg besteigt, muss ihn ja auch wieder herunter. Also selbst wenn der Teller leer ist, ist die Erlösung erst dann eingeleitet, wenn einer der Erwachsenen die magischen Worte spricht – und das kann dauern. Denn bevor Papa “Wir hätten gerne die Rechnung bitte” sagt, liegen noch einige unzählige Minuten und Peter Stuyvesants zwischen hier und der Freiheit jenseits des abgegrabbelten Frischluftschutzvorhangs. Quälende Minuten der absoluten Sinnlosigkeit, deren Leere man damit zu überbrücken versucht, dass man mit seinem Besteck im weichen Wachs der Tischkerze herumpopelt – in der Hoffnung, dass es einem wenigstens irgendjemand verbietet. Besonders ungeduldige Kinder versuchen in Fällen wie diesen zusätzlich, die Situation durch wohldosierte, aber gezielt ausgerichtete Quengelei zu ihren Gunsten aufzulösen. Und genau ein solches Kind war ich.
“Jetzt haben wir doch aufgegessen, warum sitzen wir denn immer noch hier rum!?” merkte ich an und zerbröselte die aufgeweichten Bierdeckel auf der Tischdecke. Ich kann mich leider nicht mehr erinnern, welches Gegenargument meine Eltern seinerzeit anbrachten – aber sicher war, dass beide Parteien nach einigem Hin-und-Her den äußersten Grad der Reizbarkeit erreicht hatten. Eindeutig signalisiert wurde mir dieser Zustand meist durch meinen Vater, der mich dann mit etwas festerem Griff am Oberarm packte und mir durch zusammengebissene Zähne zuzischte: “Passss auf, mein lieber Freund, reisssss dich jetzt zusammen!” Das entspannte Sonntagsmahl war jedenfalls gelaufen und die Stimmung, im wahrsten Sinne des Wortes, aufgeheizt. Auf diesen Moment hatte der gewiefte Gastronom Mimo offenbar nur gewartet und erschien plötzlich wie aus dem Nichts mit einem Tablett Grappa auf’s Haus. Und das war dann meistens der Punkt, an dem einem alles egal wurde. Denn wie wir alle wissen, sind Gratis-Schnäpse in der Regel der Anfang vom Ende – damals wie heute. Und während die Erwachsenen das zweite Glas leerten und sich die Dunstglocke aus Qualm und Heizungsluft wieder über uns schloss, ließ ich mich einfach unter den Tisch fallen und rollte mit den Kleinkindern vom Nebentisch auf dem Boden herum.
Eigentlich sollte man das viel öfter machen. Man gönnt sich ja sonst nichts.

Text: Magnus von Keil

Illustration: Tim Brackmann

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